Theodor Fontane galt in der Forschung bislang als Empiriker, der mit einem metaphysischen Weltbild nichts anzufangen wusste – und doch las und diskutierte er mit Freunden die Werke von Arthur Schopenhauer, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Modephilosophen des Bürgertums avancierte. Eine umfassende literaturwissenschaftliche Untersuchung der Spuren der Willensmetaphysik in Fontanes umfangreichem Erzählwerk stand bislang aus. Die vorliegende Arbeit bietet einen Überblick über die außerliterarischen Zeugnisse der Schopenhauer-Rezeption Fontanes und wertet sein Exzerpt von Schopenhauers Schrift zur Verteidigung von Spuk- und Geistererscheinungen inhaltlich neu aus. Sie stellt den Leser:innen Schopenhauers Charakterlehre und den Begriff des Willens vor, einer metaphysischen Kraft, die jene Bereiche der Wirklichkeit – Sexualität, Kriminalität, Natur und Elemente, Ästhetik, Glaube, Spuk – dominiert, welche auch im Zentrum der konfliktreichen Romanwelten Fontanes stehen. Schopenhauers realitätsbasierte Metaphysik, insbesondere das Grundmodell der Psychologie des Willens (Willensbejahung versus Verneinung), das als Vorläufer von Sigmund Freuds Seelenlehre gilt, erweist sich als idealer Kontext, vor dem sich beispielsweise die Schwankung zwischen Trieb und Ratio/Vernunft, mit dem zahlreiche Figuren im Erzählwerk des Realisten kämpfen, neu interpretieren lassen. Die Arbeit stellt erstmals die zahlreichen Referenzen auf die Willensmetaphysik in ihrer Gesamtheit vor und arbeitet darüber hinaus systematisch die weitreichenden thematischen und strukturellen Prägungen der Ehe- und Kriminalromane Fontanes durch Schopenhauers Metaphysik und ihre poetisch-narrativen Anwandlung heraus. Im Hinblick auf die Ähnlichkeiten, die Fontanes Schopenhauerrezeption mit jener Wilhelm Raabes, Thomas Manns und weiterer Autoren aufweist, und somit eingedenk der gravierenden Bedeutung der Willensphilosophie für die Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, argumentiert die vorliegende Studie dafür, das Epochenbild um den Begriff eines Metaphysischen Realismus zu erweitern.
Die Habilitationsschrift ist in der Reihe „Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft“ erschienen. Diese präsentiert „herausragende Arbeiten zum Werk Theodor Fontanes. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Erst- und Neuedition wichtiger Werkkomplexe nach textkritischen Maßstäben. Mit der Herausgabe dieser Schriftenreihe möchte die TFG zur literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung beitragen und neue Zugänge zu Literatur, Kultur und Geschichte des 19. Jahrhunderts eröffnen.“ |