William Massei Jr.:
Frau Prof. Cacciola, es ist eine große Freude, einmal wieder mit Ihnen zu sprechen und etwas von der Rezeption Schopenhauers in Brasilien erfahren zu können. Wie würden Sie diese Rezeption charakterisieren bzw. den Weg beschreiben, den Schopenhauer bis heute in Brasilien zurückgelegt hat?
Maria Cacciola:
Schopenhauer ist vor allem zunächst als Literat aufgenommen worden und nicht unbedingt als Philosoph. Es gehörte sich unter den höher gebildeten Bürgern im 19. Jahrhundert, ihn zu kennen. Akademisch hat es hingegen länger gedauert, bis er endlich bekannt wurde. Als ich anfing, mich mit ihm zu beschäftigen, gab es meines Erachtens nur eine akademische Arbeit über ihn („A outra face do nada“ – dt. Ausg. „Jenseits des Willens zum Leben“ von Muriel Maia-Flickinger) Nach dem Erscheinen meiner Doktorarbeit („Schopenhauer e a Questão do Dogmatismo“) ist dann ein neues Interesse für ihn erwacht. Später haben ehemalige Studenten und Doktoranden, die ich an der Universidade de São Paulo betreut habe, sowie Kollegen wie Oswaldo Giacóia Jr. in Campinas eine neue Generation von Schopenhauer-Forschern ausgebildet. Die ehemaligen Doktoranden und Kollegen sind heutzutage selbst Schopenhauer-Forscher und lehren die Philosophie Schopenhauers an verschiedenen Universitäten in Brasilien. Hinzukamen die „Schopenhauer-Kolloquien“, die zuerst von Prof. Jair Barbosa in Curitiba organisiert wurden, und inzwischen bereits zehn Mal stattgefunden haben. Diese Kolloquien haben es Schopenhauer-Forschern aus der ganzen Welt ermöglicht, ihre Forschung vorzustellen. Nicht zu vergessen die zahlreichen Übersetzungen und Teilübersetzungen, die Schopenhauers Philosophie bekannt und zugänglich gemacht haben.
Massei Jr.:
Zurück zu den Anfängen der Schopenhauer Rezeption im 19. Jahrhundert: Es ist bekannt, dass einer unserer größten Schriftsteller, Machado de Assis, Schopenhauers Hauptwerke gelesen hat. Gibt es andere Autoren, von denen man sagen kann, dass sie von Schopenhauer beeinflusst worden sind?
Cacciola:
Ja! Z. B. der Dichter Augusto dos Anjos. Ich habe das Thema noch nicht gründlich erforscht, aber seine Kenntnis Schopenhauers lässt sich kaum bezweifeln. Aber wichtig zu bemerken ist, dass Machado de Assis nicht nur Schopenhauers „Parerga und Paralipomena“ kannte, sondern auch sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Machado de Assis war vielfach sehr ironisch und stellenweise lässt sich eine regelrechte schopenhauersche Ironie bei ihm herauslesen.
Massei Jr.:
Es ist auch erstaunlich, wie ausgeprägt heutzutage das Interesse an Schopenhauer in Brasilien ist, und dies nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch bei einem breiteren gebildeten Publikum. Wie lässt sich dies verständlich machen?
Cacciola:
Brasilien ist auch ein Land vieler Kontraste und Ungeichheiten. In unserer Gesellschaft gibt es im alltäglichen Leben vielfältige leidvolle Erfahrungen, sei es politisch, sozial oder wirtschaftlich. Gleichzeitig existiert eine große Hoffnung, dass dieses Leiden überwunden werden kann. Deshalb haben die Interpretationen von Max Horkheimer, Alfred Schmidt u. a., die eher einen links-orientierten Zweig der Schopenhauer Forschung ausmachen, einen so großen Widerhall in Brasilien gefunden. Zudem findet Schopenhauers Kritik der akademischen Philosophie, die ihm einen bestimmten disruptiven Elan, eine Radikalität verleiht, ihre Zuhörer in der brasilianischen Akademielandschaft und Gesellschaft.
Massei Jr.:
Kann es darüber hinaus auch der Fall sein, dass Schopenhauers Beschreibung der modernen Gesellschaft, besonders der europäischen Gesellschaft nach dem Aufbruch der Industrialisierung, dieselben Ungleichheiten und Leiden, die wir immer noch in Brasilien erleben, thematisiert, und deshalb eine größere Identifizierung und Begeisterung für ihn in Brasilien festzustellen ist?
Cacciola:
Auf jeden Fall!
Massei Jr.:
In welche Richtung wird sich Ihrer Meinung nach die zukünftige Schopenhauer-Forschung in Brasilien bewegen? Kann man schon über Tendenzen sprechen?
Cacciola:
Das ist schwer vorherzusagen. Ich glaube, dass die sozial-politische Tendenz der links orientierten Forschung von der jüngeren Forschung weiter vorangebracht wird. Aber mit Gewissheit lässt sich vor allem sagen, dass Schopenhauer auch weiterhin erforscht und begeistert gelesen werden wird.
Massei Jr.:
Vielen Dank für das Gespräch.
Cacciola:
Ich danke ebenfalls.
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