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Schopenhauer, Kant und der Idealismus


27. Dezember 2024


Den Essaywettbewerb der Schopenhauer-Gesellschaft 2024 zum Thema "Schopenhauer – der ‚Thronerbe Kants‘?" hat Tom Bildstein mit seinem Essay "Der Mut zum Idealismus: Schopenhauers kompendiarischer Kantianismus" gewonnen. Der Beitrag wird im "Schopenhauer-Jahrbuch" für das Jahr 2024 veröffentlicht. Hier spricht Tom Bildstein über die grundlegenden Thesen seines Textes. Die Fragen stellte Daniel Schubbe.

 

Was ist der Ansatzpunkt Deiner Überlegungen zum Verhältnis von Kant und Schopenhauer?

Die Frage nach dem Verhältnis Schopenhauers zu seinem selbsternannten „Meister“ Kant hat eine lange Tradition in der Schopenhauer-Forschung. Es wurde in der Vergangenheit entweder versucht, Schopenhauers Kant-Interpretation trotz ihrer vernichtenden Kritiken durch sowohl ältere Neukantianer wie Hermann Cohen als auch neuere Kant-Forscher wie Martin Booms und Peter Welsen, gegen diese ablehnenden Lesarten aufzuwerten, oder aber die Selbstbezeichnung Schopenhauers als „Kantianer“ aufgrund grundlegender ideologischer Differenzen zwischen beiden Denksystemen als durchaus problematisch und bis zu einem gewissen Grad als unzutreffend anzusehen. Mein Essay folgt dem Ansatz, einen möglichst unparteiischen Zugang zu dieser klassischen Forschungsdebatte zu schaffen, der weniger die inhaltlichen Übereinstimmungen und/oder Unvereinbarkeiten zwischen der kantischen und der schopenhauerschen Philosophie als die dieser Debatte zugrundeliegenden Vorurteile gegenüber ihren Hauptfiguren zu thematisieren sucht. Meinem Beitrag liegt mit anderen Worten die Überzeugung zugrunde, dass es sinnvoll sei, sich zunächst einmal ein präzises Bild davon zu machen, wen Schopenhauer mit „Kant“ in seinen Texten überhaupt meint, d.h. welche Texte er als die Quelle seines Kantianismus‘ anerkennt, bevor entschieden wird, ob die Art und Weise, wie er sich auf seinen „Meister“ beruft, legitim ist oder nicht. Denn möglicherweise hat Schopenhauer, wenn er von Kant spricht, einen ganz anderen Denker vor Augen als den, den wir heute mit diesem Namen assoziieren.

Welchen Kant müssen wir lesen, um Schopenhauers Bezug zu Kant zu verstehen?

Diese Frage lässt sich, in meinen Augen, aus zwei verschiedenen und bis zu einem gewissen Grad auch unvereinbaren Perspektiven beantworten. Gemäß der nach 1826, dem Jahr seiner ersten und für sein späteres Denken entscheidenden Lektüre der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft entstandenen, selbstreflektierenden Perspektive Schopenhauers, gibt es eigentlich nur einen einzigen „echten“ Kant, auf den es allein wert sei, sich in der Philosophie zu beziehen, nämlich den Autor der 1781 erschienenen Urfassung der Kritik der reinen Vernunft. Kant habe in Schopenhauers Augen, anders als in den späteren Ausgaben seines erkenntnistheoretischen Meisterwerkes, in der Erstauflage noch eine dem Immaterialismus Berkeleys nahestehende, „entschieden idealistische Grundansicht“ verteidigt, die er später wieder im Rahmen seiner „Widerlegung des Idealismus“ in der zweiten Auflage anfechten wird. Schopenhauer sieht in diesem Gesinnungswechsel ein deplorables, „furchtsame[s] Zurückweichen“ (GBr, 167) vor seinen ersten Kritikern. Aus der Perspektive eines Schopenhauer-Forschers des 21. Jahrhunderts reicht es hingegen nicht aus, sich ausschließlich auf den Text der Kritik der reinen Vernunft in seiner Erstausgabe zu beschränken, um Schopenhauers Kant-Rezeption im Detail nachvollziehen zu können. Es ist notwendig, sich neben der Kritik der reinen Vernunft, nicht nur in ihrer ersten sondern auch in ihrer sechsten Auflage – diese Version des Textes hatte Schopenhauer vor Augen, als er den ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung schrieb –, mindestens auch mit den zwei anderen Kritiken Kants, sprich der Kritik der praktischen Vernunft (1787) und der Kritik der Urteilskraft (1790) zu beschäftigen, da sie einen nachhaltigen Einfluss auf Schopenhauers ethische und ästhetische Schriften hatten. Zusätzlich könnte man, neben den drei Kritiken, auch die Prolegomena von 1783 lesen, die Schopenhauer als „schönste[ ] und fasslichste[ ] aller Kantischen Hauptschriften“ (W I, Anhang, Lü, 535) anerkennt. Die Hauptsache bleibt – dies gilt laut Schopenhauer nicht nur für die Interpretation Kants, sondern für die jedes „großen“ Philosophen – dass wir uns direkt mit seinen Primärtexten beschäftigen. Man sollte nicht vergessen, dass das Bild des Philosophen, das uns heute vor Augen schwebt, wenn wir an Kant denken, von einer über zwei Jahrhunderte schweren Sekundärliteratur geformt wurde. Wir können Kant heute nicht mehr mit „unschuldigen“ Augen lesen.  Aus der heutigen Perspektive würde Schopenhauers idealer Zugang zu Kant gewissermaßen in einer direkten, d.h. von unserer Vorkenntnis der Kant-Studien möglichst freien Konfrontation mit seinen Haupttexten, vor allem mit der Erstausgabe der Kritik der reinen Vernunft, bestehen.

Wie lassen sich diese Überlegungen in die bisherige Forschung zu Kant und Schopenhauer einordnen?

Dadurch, dass Schopenhauer sich bei näherer Betrachtung als ein äußerst wählerischer Kantianer offenbart, verliert das Problem der schopenhauerschen Rezeption der kantischen Philosophie ihren „totalitären“ Anspruch. Das Problem verlangt in meinen Augen nach einer neuen Fragestellung. Um mit Heidegger zu sprechen, muss das „Befragte“ in der Frage nach Schopenhauers Kant-Rezeption präziser umfasst werden. Wir müssen der klassischen Forschungsfrage, ob und inwieweit das schopenhauersche System mit dem kantischen vereinbar ist bzw. ob und inwieweit Schopenhauer Kant tiefgreifend verstanden hat, eine erste „blumenbergsche“ Frage vorausschicken, die da wäre: „Was war es, das Schopenhauer von Kant wissen wollte?“ Es gilt, mit anderen Worten, zunächst danach zu fragen, wonach Schopenhauer in den kantischen Schriften genau sucht, d.h. was er von dem Königsberger Weltweisen eigentlich wissen will, bevor man allgemein über die Angemessenheit seiner Behandlung der übernommenen Ideen urteilt. In meinem Essay habe ich versucht zu zeigen, dass diese erste blumenbergsche Frage durch den Umweg über die zwei anderen Hauptquellen des Schopenhauerschen Denkens, Platon und die Upanischaden, beantwortet werden kann. Was Schopenhauer von Kant wissen wollte, stimmt im Großen und Ganzen mit dem überein, was er in diesen sowohl geographisch als auch zeitlich weit voneinander getrennten Lehren gesucht hat, nämlich eine Bestätigung seiner eigenen, idealistischen Grundansicht. Schopenhauer spricht der kantischen Transzendentalphilosophie, deren revolutionäre Wirkung auf das abendländische Denken er zweifelsohne anerkennt, zunächst nur eine lokale Bedeutung zu. Im dritten Band des Handschriftlichen Nachlasses finden wir eine diesbezüglich sehr aussagekräftigte Notiz Schopenhauers: „In Indien wäre Kant nie auf den Einfall gekommen, eine solche Vernunftkritik zu schreiben. – Er hätte die positiven Lehren derselben in ganz anderer Gestalt vorgebracht“ (HN III, 330). Man könnte sagen, dass Schopenhauer aus geistesgeschichtlicher Perspektive bei Kant vor allem die Fähigkeit wertgeschätzt hat, den ideologischen Rückstand des Abendlandes auf das schon durchaus idealistisch denkende Morgenland endlich aufgeholt zu haben. Es ist also wirklich der Begriff des Idealismus, den Schopenhauer im „transzendentalen Idealismus“ Kants würdigt. Letzterer achtete jedoch seit den Prolegomena und der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft im Gegenteil darauf, den Begriff des Transzendentalen in seiner neuen Konzeption des Idealismus zu unterstreichen, um sich so deutlich wie möglich vom „klassischen Idealismus“ seiner Vorgänger zu distanzieren. Das Porträt, das Schopenhauer von Kant zeichnet, stellt insofern ein Gesicht dar, mit dem sich der Porträtierte selbst nicht mehr hätte identifizieren können. Diese Tatsache sollte uns dazu anregen, den Sinn und die Grenzen der Debatte über Schopenhauers Kant-Rezeption kritisch in Frage zu stellen.

In welchen Punkten bricht Schopenhauer mit Kant?

Schopenhauer bricht mit Kant in einer Vielzahl von Punkten, die er vor allem im Anhang des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung konsequent darlegt. Ich denke, dass man aus einer Gesamtperspektive heraus von einem „ontologischen“ oder „dogmatischen“ Bruch Schopenhauers mit Kant sprechen kann. Als Willensmetaphysiker trifft Schopenhauer im Gegensatz zu seinem „Meister“ dogmatische Aussagen über das Sein des Seienden, oder, um in seinen eigenen Worten zu sprechen, über das Wesen oder Ding an sich der Erscheinungen der Wirklichkeit. Schopenhauer geht einen bedeutenden Schritt weiter als Kant und sieht dieses dogmatische Wagnis nicht als einen Rück-, sondern als einen bedeutenden Fortschritt gegenüber dem transzendentalen Idealismus. Die (Neu-)Kantianer sehen dieses Wagnis sehr kritisch: In ihren Augen stellt dieser vermeintliche metaphysische Fortschritt über die apriorischen Grenzen der menschlichen Erkenntnis einen unverzeihbaren Fehltritt Schopenhauers dar. Aufgrund seiner bis zum Ende seines Lebens stolz vertretenen These einer relativen, also immer noch ein Stück weit indirekten Erkennbarkeit des Dinges an sich durch die leibhaftige Selbsterfahrung des Willens, hat Schopenhauer bis heute in der Kant-Forschung einen negativen Ruf. Ich wollte in meinem Essay unter anderem darauf aufmerksam machen, dass es außer dem allgemeinen doktrinellen Bruch mit Kant, den man in seiner radikalsten und reinsten Form in Schopenhauers Mitleidsethik wiederfinden wird, auch einen bibliographischen Bruch gibt, der diesen zum Teil erklärt. Denn dadurch, dass Schopenhauer sich 1826 gegen den Willen Kants richtet, die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft als die ausgereiftere, von ehemaligen Missverständnissen befreiten Version seines Hauptwerkes anzuerkennen, indem er den gewissermaßen „verworfenen“ Originaltext als die authentische Lehre seines „Meisters“ interpretiert, spricht er sich entschlossen für das aus, was ich einen kompendiarischen Kantianismus nenne, und baut dadurch eine bedeutende, in meinen Augen äußerst originelle Distanz zum „klassischen“ Kantianismus auf. |

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