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Schopenhauer, Kant und das Ding an sich


22. Mai 2023


Raphael Gebrecht über seine umfangreiche Studie zum Ding an sich bei Kant und Schopenhauer und die Aufgaben einer historisch-philosophischen Untersuchung. Die Fragen stellte Daniel Schubbe.

 

Dein Buch „Wandlungen des Transzendentalen“ widmet sich der schwierigen Frage, wie das Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer zu fassen ist. Was sind diesbezüglich die Leitfragen Deiner Überlegungen?

Gebrecht: Für mich war entscheidend, wie man innerhalb kantischer Grundannahmen über Kant hinausgehen kann, um das Ding an sich tatsächlich in irgendeiner Weise erkennbar zu machen. Für mich waren dabei Schopenhauers theoretische Versuche über den Analogieschluss oder die Ideen mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet, mit denen man allerdings nur konfrontiert ist, wenn man Schopenhauers Philosophie als ganze erkenntniskritisch konzipieren will. Das heißt die zentrale Frage war eigentlich, wie man Kant mit Kant überwinden kann oder ob Metaphysik nach Kant noch möglich ist, wenn man nicht in vorkritische Denkmuster zurückfallen möchte. Für mich war die Antwort „ja“, aber nur wenn man Metaphysik zum einen daseinshermeneutisch und zum anderen subjektivitätstheoretisch versteht. Dazu gesellt sich das Problem, das Ganze in Abgrenzung vom deutschen Idealismus zu konzipieren, dessen Problemhorizont nahezu identisch war.

Eine der großen Stärken Deiner Studie liegt darin, Schopenhauers Ausführungen sehr präzise auf die kantischen Grundlagen zu beziehen. Schopenhauer sieht sich gerne als einzig legitimer Nachfolger Kants, spart aber nicht mit weitreichender Kritik an ihm. Worin siehst Du in Bezug auf Deine Fragestellung die wichtigsten Ausgangspunkte und Modifikationen Schopenhauers?

Gebrecht: Der Ausgangspunkt für Schopenhauer lag m.E. darin, eine kritisch restringierte Ontologie zu begründen und Kant dabei weiterzuführen. Dabei werden die Erkenntnisbedingungen für die Grundbestimmungen des Seienden konstitutiv und kritisch überprüfbar. D.h. sowohl Kant als auch Schopenhauer bemühen sich um eine Ontologie, solange damit die Bedingungen möglicher Erfahrung und die damit implizierten Grenzen gemeint sind. Auf dieser Grundlage kann für Kant z.B. Platz für Glaubensfragen entstehen, die dann als praktische Vernunft metaphysische Bestimmungen in gewissen Grenzen ermöglichen. Schopenhauers Modifikationen liegen von Anfang an in einer noch vehementeren Orientierung an möglicher Erfahrung und einer damit einhergehenden Dezentrierung begrifflicher Erkenntnis, was auch den zentralen Unterschied zum deutschen Idealismus markiert. Schopenhauer sieht ähnlich wie die deutschen Idealisten eine Lücke in Kants Erkenntniskritik und versucht diese durch eine subjektivitätstheoretische Metaphysik des Ich zu schließen. Ausgangspunkt ist hier allerdings das Selbstbewusstsein des Ich als Wille, der sich über die Erfahrung des eigenen Leibes kennenlernt. Dafür ist weder begriffliche noch äußere Verknüpfung von Vorstellungen geeignet, sondern Gefühl, Leidbewusstsein und schlichte Sensibilität für Willensaffektionen.

Du sprichst den Leib  als „Ausgangspunkt“ an. Wie lässt sich dessen Rolle für die verschiedenen Konzepte genauer verstehen?

Gebrecht: Der Leib nimmt in Schopenhauers Philosophie sicherlich eine zentrale, wenngleich ambivalente Rolle ein. Er fungiert einerseits als Ausgangspunkt und Übermittler von Vorstellungen, andererseits ist er selbst unmittelbare Vorstellung. An ihm werden unsere Willensaffektionen deutlich, er ist aber selbst die unmittelbare Objektität und Sichtbarkeit des Willens. Da der Leib für Schopenhauer das einzige Objekt ist, das die Welt in ihrer Duplizität aus Wille und Vorstellung erfahrbar macht, nimmt er ohne Zweifel eine Schlüsselrolle ein. Aus transzendentalphilosophischer Perspektive darf diese Rolle allerdings nicht überbewertet werden, da Schopenhauer nach meinem Ansatz keine philosophische Anthropologie konzipieren wollte, sondern eine immanente Willensmetaphysik in kritischen Grenzen. Daher nimmt der Leib in meiner Interpretation die Funktion eines noematischen Korrelats des Selbstbewusstseins wahr, das als Subjekt des Wollens Willensregungen im Modus der Leiblichkeit realisieren kann. Hier sind durchaus, wenn auch in anderen systematischen Kontexten, Parallelen zum frühen Fichte zu erkennen, der den Leib als konkrete Sichtbarkeit des wollenden Ichs, bestimmt. Die Leiblichkeit erfüllt so eine hermeneutisch-interpretatorische Scharnierstelle, die es ermöglicht, die Welt als Ganze am Leitfaden unserer im Selbstbewusstsein erkannten Willensregungen zu deuten. Dass Schopenhauer diese Deutung als einzig mögliche und vernünftige Sicht der Dinge darstellt, ist ein Problem für seinen erkenntniskritischen Anspruch.

Du gruppierst Deine Überlegungen um das "Ding an sich". Obwohl Schopenhauer Kants Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung für zentral erachtet, scheint er den Terminus "Ding an sich" etwas widerwillig aufzunehmen, immerhin verweist er im § 22 der "Welt als Wille und Vorstellung" darauf, diesen eher "als stehende Formel" beizubehalten. Inwiefern muss Schopenhauer die Rede vom Ding an sich verändern, um das von Dir beschriebene erfahrungsorientiertere Vorgehen einlösen zu können?

Gebrecht: Die Widerwilligkeit erklärt sich meines Erachtens daraus, dass das "Ding an sich" weder bei Kant noch bei Schopenhauer in klassischem Sinne ein "Ding" ist. Kant etabliert es im Wesentlichen als Grenzbegriff und grenzt es von erscheinenden Dingen ab. Wenn Erscheinungen von ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit entkleidet werden, bleibt lediglich ein negatives Abstraktionsprodukt übrig, das jenseits seiner Nichterkennbarkeit unbestimmt bleibt oder als Idee lediglich regulative Funktionen übernimmt. Für Schopenhauer sind Dinge in ähnlicher Hinsicht Objekte in verständiger Vorstellung. Gerade das trifft auf den Willen als Ding an sich nicht zu. Das "an sich" macht insofern Sinn, als die Welt jenseits ihrer anschaulichen Vorstellbarkeit aus der Perspektive des Willens an sich erfahrbar gemacht werden kann. Er übernimmt zwar den Begriff von Kant, hätte den Willen aber vielleicht besser als bewusstseinsimmanentes Prinzip charakterisiert. Trotz allem wird durch diesen Begriff eine erkenntniskritische Tendenz in Schopenhauers Philosophie deutlich, die beibehalten werden soll, obwohl Schopenhauers Intention in einer erfahrungsgebundenen Weiterentwicklung Kants besteht.

Du beziehst in Deiner Arbeit eine unglaubliche Fülle an Forschungsliteratur mit ein: Siehst Du Überschneidungen in der Kant- und Schopenhauer-Forschung, die bislang viel zu wenig in einen fruchtbaren Austausch gebracht worden sind?

Gebrecht: Es fällt auf, dass die Stoßrichtungen der Kant- und Schopenhauerforschung ähnlich sind: Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Interpretation, die metaphysische Zwei-Welten-Deutung und die Zwei-Aspekte-Interpretation. Robert Jan Berg ging mit Blick auf Schelling und Schopenhauer in eine ähnliche Richtung, votierte aber mit einer gewissen Vorsicht für zwei verschiedene, aber aufeinander bezogene Welten als Wille und Vorstellung. Meine Untersuchungen bewegen sich eher im Rahmen einer Zwei-Aspekte-Theorie, die eine einheitliche Welt aus verschiedenen (im Wesentlichen zwei) Perspektiven zugänglich macht und meines Erachtens für einen Austausch mit der Kant-Forschung am aussichtsreichsten wäre. Diese Kooperation findet allerdings nach meinem Dafürhalten kaum statt. Es gibt zwar sehr verdienstvolle Ausnahmen, die sich quasi in Personalunion sowohl mit Kant als auch mit Schopenhauer beschäftigen, hier wäre insbesondere Rudolf Malter, Matthias Koßler, Lore Hühn, Philipp Schwab und Oliver Hallich zu nennen. Ein groß angelegter fruchtbarer Austausch zwischen Kant- und Schopenhauerforschern findet allerdings nur in sehr geringem Umfang statt. Dies hat sehr viel mit gegenseitigen Scheuklappen zu tun, die aber insbesondere mit Blick auf die jüngeren Forscher unserer Generation nicht zwangsläufig bestehen bleiben müssen. Ein erster Lichtblick ist die von Manja Kisner publizierte Arbeit zum Ding an sich bei Kant, Schopenhauer und im deutschen Idealismus.

Deine Arbeit wird als "Studie" vorgestellt. Besteht darin für Dich ein Unterschied zu einer Interpretation oder Auslegung? Welche Aufgabe siehst Du in einer philosophie-historischen Fragestellung?

Gebrecht: „Studie“ schien mir ein angemessener Ausdruck für verschiedene Untersuchungen, die allerdings unter einem gemeinsamen Dach oder mit Blick auf eine leitende Fragestellung angelegt wurden. In meinem Fall war es die Auslegung des Ding-an-sich-Begriffs in zwei Konzeptionen, die am Begriff der Ontologie unter subjektivitätstheoretischen Einschränkungen festhalten wollten. Dabei spielten vielleicht auch im Unterschied zu einer "bloßen" Interpretation systematische Aspekte eine Rolle. Für Schopenhauer stellt sich beispielsweise durchaus die Frage, ob eine auch in theoretischer Hinsicht weit über Kant hinausgehende Metaphysik unter erkenntniskritischen Vorzeichen betrieben werden kann und ob das dann noch Transzendentalphilosophie genannt werden kann. Die Antwort hierzu ist ambivalent. D.h. historische Untersuchungen bringen neben der Darstellung philosophischer Konstellationen auch systematische Probleme zum Ausdruck und müssen sich nolens volens damit befassen. Daher können "historische" Untersuchungen mit wissenschaftlichem Anspruch nie rein rekonstruktiv agieren, sondern müssen sich mit der Sinnhaftigkeit der Konzeptionen, die sie behandeln, auseinandersetzen. Das sollte sich idealerweise immanent, durch die Untersuchung der Prämissen und Argumente, die im Text enthalten sind, vollziehen. Falls nicht, wären eigene Gegenthesen zu entwickeln, die dann wiederum systematisch einleuchtend sein müssten. Daher muss eigentlich jede historisch-philosophische Untersuchung zwangsläufig mit eigenen systematischen Anstrengungen verbunden sein, was wiederum die Bedeutung der Klassiker für aktuelle Fragestellungen impliziert. |

Raphael Gebrecht: Wandlungen des Transzendentalen. Das Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2023. | mehr erfahren (externe Verlagsseite)

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